Mehrsprachigkeit

15.11.2022
Berichtsantrag über Mehrsprachigkeit 
(mit Barbara Haggenmüller)

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Kiechle,

 

 

jedes fünfte Kind spricht zu Hause in Deutschland mindestens eine weitere Sprache, in Kempten - mit einer Bevölkerung von rund 40 Prozent Migrationsanteil – mit Sicherheit noch mehr. Bildungsforscher*innen sind heute einig, dass sie durch das gleichzeitige Lernen mehrerer Sprachen nicht überfordert werden, sondern sogar eine weitere Sprache leichter lernen können. Die Herkunftssprache ist außerdem ein zentraler Bestandteil der Identität von mehrsprachig aufgewachsenen Menschen. Man muss kaum hervorheben, dass multilingualen Menschen der Zugang zu literarischen, journalistischen und Fachtexten aus anderen Ländern leichter fällt, was im Studium und im Berufsleben von großem Vorteil sein kann. Aus der europäischen Geschichte wissen wir, dass die Multilingualität der Stadtgesellschaften und die damit verbundene kulturelle Bereicherung bis zu ihrer neuesten Geschichte zu ihrem gut funktionierenden Alltag gehörte.

 

Einen herkunftssprachlichen Unterricht gibt es in Deutschland seit den 1960-er Jahren, dieser wird aber meistens den Auslandsvertretungen überlassen und von den Regelschulen ferngehalten.

Mehrsprachigkeit wird in Schulen, wenn es um die klassischen Fremdsprachen wie Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch geht, als Gewinn, aber wenn es sich um andere „heritage languages“ handelt, in den meisten Fällen noch immer als Problem oder als Gefahr wahrgenommen, dem alten Vorurteil entsprechend, nach dem Kinder, die diese Sprachen sprechen, nicht richtig Deutsch könnten. Tragischerweise wird das Verlernen der Herkunftssprache oft als Zeichen gelungener „Integration“ verstanden. Was für eine Verschwendung!

 

Wir schlagen vor, auf der Grundlage eines Berichts, der auf folgende Fragen eingehen könnte, im Integrationsbeirat und in den zuständigen Ausschüssen eine Diskussion zu führen, um die aktuelle Situation einschätzen zu können und mögliche Verbesserungswege aufzuzeigen. Ziel sollte auch sein, die Wertschätzung der vielfältigen Familiensprachen in unserer Stadtgesellschaft zu erhöhen.

 

-         An welchen Regelschulen wird in Kempten herkunftssprachlicher Unterricht angeboten? Wird die Teilnahme im Zeugnis vermerkt und die Leistung benotet? Finden die entsprechenden Stunden in der Regelunterrichtszeit statt?

-         Welche Angebote gibt es von den Auslandsvertretungen und von hiesigen Vereinen? Welche kommunale Unterstützung erhalten diese?

-         Werden bundes- oder landesweit angebotene digitale Angebote bei uns beworben und wird die Teilnahme unterstützt?

-         Wie ist die Versorgung mit Lehrkräften und aktuellen Lehrbüchern? Sprache ist ständig im Wandel, deswegen ist es auch wichtig, dass man den nächsten Generationen kein „eingerostetes“ Wissen weitergibt.

-         Eine andere Sprache zu lernen bedeutet immer auch eine andere Kultur kennenzulernen. Wenn es um die Herkunftskultur der eigenen Schulfreunde geht, wäre das ein besonders wertvoller Beitrag zur Integration. Deswegen die Frage: Welche der Herkunftssprachen von hier lebenden Zuwanderern werden an Kemptener Schulen als Fremdsprachen angeboten?

-         Wie wird in der Stadtverwaltung mit Mehrsprachigkeit umgegangen? In welchen anderen Sprachen kann man Amtsgeschäfte schriftlich, persönlich und digital erledigen?

 

Die obigen Daten stammen aus folgenden Quellen:

-         Sophie Rebmann: Mój polski skarb / Mein polnischer Schatz, in: Die Zeit, 11.08.2022

-         Olga Grjasnowa: Die Macht der Mehrsprachigkeit; Berlin 2021

 

Wichtig finden wir, sich über folgenden Satz von Grjasnowa Gedanken zu machen: „Ich bin davon überzeugt, dass man in einem Land nicht endgültig ankommen kann, bevor man nicht die Kultur der Eltern oder eines Elternteiles besser verstehen lernt.“ (S. 87)

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