K5NSZeit2

Kempten und die NS-Zeit, Teil 2

„Ein neuer Blick ist absolut begrüßenswert und zwingend notwendig,“ äußerte sich Oberbürgermeister Thomas Kiechle in Bezug auf die NS-Vergangenheit von Kempten in der Allgäuer Zeitung. (1) Wie könnte das aussehen? Dazu möchte ich für die historische Forschung und für die Kommunalpolitik einige konkrete Schritte vorschlagen. Dabei gehe ich zunächst von den Inhalten von Martina Stebers Vortrag aus. Sie ist exemplarisch auf drei Themenbereiche eingegangen:

1. Der öffentliche Raum wurde von den Nationalsozialisten vereinnahmt. 

Im Ausstellungsraum „Wer hat das Sagen in der Stadt?“ im Zumsteinhaus wird das ausführlich dokumentiert: Ein nationalsozialistisch geprägtes Flaggenmeer bestimmte an vielen Stellen das Stadtbild, Straßen wurden aufgrund des Erlasses des Innenministeriums vom Juli 1933 umbenannt, in der Tierzuchthalle hielt man ab Oktober 1933, von einem Festzug des Gewerbevereins begleitet, die „Braune Messe“ ab, das historische Rathaus wurde umgestaltet und deren Fassadengestaltung durch Franz Weiß stellte die Sage von Heinrich von Kempten mit den Stilmitteln der nationalsozialistischen Kunst dar usw. 

Fragestellungen für die weitere Forschung:
a) Viel spannender als die Diskussion über die genaue Jahreszahl von Straßenumbenennungen ist in meinen Augen die Fragestellung, inwieweit diese Propaganda in der Kemptener Bevölkerung auf fruchtbaren Boden traf. Beginnen könnte man mit einer Analyse der öffentlichen Meinung.(2)

b) „Es steht außer Zweifel, dass die Führerherrschaft in den sechs Friedensjahren des ‚Dritten Reiches‘ eine stürmisch wachsende, schließlich enthusiastische Zustimmung aus der deutschen Gesellschaft erfahren hat,“ behauptet Hans-Ulrich Wehler im 4. Band seiner „Gesellschaftsgeschichte“. (3) Kann man das in Kempten belegen? 

c) Welche Wirkung hatten regionale Medien, wie der von Alfred Weitnauer maßgeblich mitgestaltete „Schwabensender“ (4) oder die von ihm herausgegebene Zeitschrift „Das Schöne Allgäu“, die laut Steber sich ab 1938 darauf konzentrierte, „den Antisemitismus in die bayerisch-schwäbische Geschichte einzuschreiben“ (5), bei der Verstärkung der Reichspropaganda? Welche Rolle spielten Heimatdichter wie Peter Dörfler, der, zusammen mit 87 weiteren Schriftstellern und Dichtern, im Oktober 1933 Hitler gegenüber das „Gelöbnis treuester Gefolgschaft“ verkündete, Arthur Maximilian Miller, den die Nationalsozialisten zunächst zum Aushängeschild aufgebaut haben oder die Mundartschriftstellerin Else Eberhard-Schobacher, die mit ihrem Stück „Funkensonntag“ 1936 erbbiologische Propaganda betrieb? (6) 

d) Was waren die Gründe für die breite Zustimmung? Daniel Goldhagens These über den eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen und Robert Gellatelys Erklärung über die breite Zustimmung für eine Politik, die versprach, für Recht und Ordnung zu sorgen (7), haben die Debatte über diese Frage ausgelöst. Heute ist die Wissenschaft von monokausalen Antworten abgerückt. Auch die Forschung in Kempten muss die richtigen Fragen stellen: Welche Rolle spielten die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs? Wie groß war die Ablehnung der Weimarer Demokratie? Welche Möglichkeiten bot das neue Regime den Einzelnen zur politischen und sozialen Teilhabe? Was versprach man sich vom Zugehörigkeitsgefühl einer „Volksgemeinschaft“? Wie groß war die Steigerung des durch außenpolitische Erfolge ausgelösten Selbstwertgefühls? Welche persönlichen Vorteile versprachen sich manche durch das korrupte System? Wie kräftig war die mobilisierende Wirkung der großen Betriebsamkeit und der außerordentlichen Leistungsenergie der Nationalsozialisten?

Fragestellung für die Kommunalpolitik: 
Unsere Stadt hat durch Straßenbenennungen Männer und Frauen geehrt, die ein menschenverachtendes Regime bewusst und aktiv unterstützt haben. General Dietl (8) und Carl Diem (9) haben bereits ausgedient. Welche Umbenennung ist die nächste?

a) Die besten „Chancen“ werden Richard Knussert eingeräumt, der als Referent des Reichspropagandaamtes Schwaben, Gaukulturhauptstellenleiter der NSDAP und Schriftleiter der NS-Zeitschrift „Schwabenland“ eine Schlüsselposition bei der Verbreitung von rassistischem und antisemitischem Gedankengut spielte. (10) Ein entsprechender Antrag der Grünen-Stadtratsfraktion liegt vor.

Jens Jessen weist in der Wochenzeitung „Die Zeit“ am 18. Juni 2020 in Zusammenhang mit den aktuell gestürzten Denkmälern von brutalen Männern aus der Kolonialzeit darauf hin, „dass Denkmäler zwielichtiger historischer Gestalten auch Mahnmale sein können,“ (11) Orte des antirassistischen Lernens. Anders sieht es in meinen Augen mit Straßennamen aus, die nicht als Erinnerungs- oder Mahnorte dienen, sondern wichtige Persönlichkeiten der lokalen oder der allgemeinen Geschichte ehren sollten. Die Ehrung zwielichtiger Figuren oder Personen mit menschenverachtender Vergangenheit ist in diesem Zusammenhang unerträglich. In Knusserts Fall sind die Beweise so klar, dass jede weitere Diskussion statt sofortigem Handeln den politisch Verantwortlichen unserer Stadt nicht würdig wäre. „Niemand kann von einem anderen verlangen, ein Held zu sein. Wohl aber kann von jedem verlangt werden, dass er kein Schurke und kein Lump sei,“ sagte Jan Philipp Reemtsma in seiner Laudatio für Saul Friedländer. (12) Noch weniger darf man einen Schurken oder ein Lump so darstellen, als ob er ein Held wäre!

b) Man muss in Kempten auch die Frage stellen: Ist es politisch vertretbar, dass in Kempten Straßen die Namen von Dörfler, Eberhard-Schobacher und Weitnauer tragen?

c) Wir leben in einer Zeit, in der politische Kräfte in unseren Parlamenten und auch in unseren Stadträten sitzen, die versuchen, die Grundwerte unserer Demokratie zu untergraben. Ein fester Bestandteil dieser Grundwerte ist die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen historischen Vergangenheit und die damit verbundene Erinnerungskultur. Die Verharmlosung des nationalsozialistischen Regimes gehört zu den ersten Schritten, die die Feinde unserer Demokratie gehen. Die Beibehaltung von Straßennamen von Personen, die dem Nazi-Regime aktiv dienten und ihr Leben lang von der Richtigkeit der Nazi-Ideologie überzeugt waren, wäre eine derartige Verharmlosung. Die konsequente Fortsetzung der historischen Aufarbeitung ist deshalb gerade heute unverzichtbar für alle, die sich weiterhin an den Werten unseres Grundgesetzes orientieren wollen.

d) Wäre es nicht sinnvoller, eine Straße nach dem evangelischen Dekan Hermann Kornacher, der als Anhänger der Bekennenden Kirche tatsächlich Widerstand leistete, zu benennen? In seinem Leben gab es viel Licht, aber auch ein wenig Schatten, genauso wie Michael Peinkofer in seiner Zugabe-Kolumne (13) forderte: Kornacher kritisierte die Nationalsozialisten offen, protestierte gegen antisemitische Pogrome und gegen die Euthanasie, verteilte Flugblätter und ließ an seiner Kirche keine nationalsozialistische Propaganda hängen. Aber er veröffentlichte am 28. März 1936, in der Hoffnung, dass es mit der Phase der permanenten Radikalisierung des Regimes vorbei, einen Wahlaufruf für Hitler. Er sah aber schnell ein, dass das ein Irrtum war, und nahm seine konsequente kritische Haltung wieder auf. (14)
      
2. Die alte bürgerliche Elite hatte keine großen Schwierigkeiten, ihren Platz in der neuen politischen Ordnung zu finden.

Martina Steber konzentrierte sich in ihrem Vortrag auf die Person von Oberbürgermeister Otto Merkt. Sie zeigte auf, wie Kulturarbeit auf der Grundlage völkischer Ideologie und deren organisatorischer Struktur nach der Wortwahl von Gaukulturwart Heinz Zwisler für die alten Eliten eine „goldene Brücke“ ins „Dritte Reich“ bildete (15) und welche besondere Rolle bei Merkt seine Einstellung zur Rassenhygiene spielte. Es ist bemerkenswert, dass Gauleiter Karl Wahl, wie Bernhard Gotto herausarbeitete, bei der Auseinandersetzung mit SA-Sonderkommissar Ritter von Schöpf im Sommer 1933 in Merkt und Anton Brändle Verbündete suchte und fand (16). Es fällt einem in dem Fall schwer, die Grenze zwischen alten und neuen Eliten zu definieren, die Verhältnisse waren viel komplexer.

Fragestellungen für die weitere Forschung:
a) Eine wissenschaftliche Merkt-Monografie wäre längst angebracht. Martina Steber hat nur eine Seite seiner Persönlichkeit und seiner politischen Arbeit ausgearbeitet. Gernot Römer schreibt hierzu einen Schlüsselsatz: „Erstaunlich ist, dass Merkt sich überhaupt bis 1942 im Amt halten kann.“ (17) Erstaunlich wäre es, wenn dafür die von Alfred Weitnauer attestierten und von Römer ohne jegliche Kritik zitierten „Lippenbekenntnisse“ ausgereicht hätten. Erstaunlich ist es eher, wie effektiv und nachhaltig die Versuche waren, sich und die eigenen Weggefährten sauber zu waschen und hierbei sich selber sogar die Position des Widerstands zuzuschreiben. Wenn Römer Weitnauer zitiert: „Aber die Partei hat ihm zu keinem Augenblick getraut – mit gutem Recht“, warum schreibt er nicht dazu, dass die Beiden seit 1935, als Weitnauer zum Heimatpfleger mit Dienstsitz Kempten ernannt wurde, eng zusammengearbeitet haben und dass Weitnauer, nachdem ihm Anton Brändle 1937 politische Zuverlässigkeit und eine vertiefte nationalsozialistische Weltanschauung attestierte, der Partei beigetreten ist, wo er sich dann als Gauvolkstumswart der Nationalsozialistischen Kulturgemeinde engagierte. Er blieb bis zu seiner Pensionierung 1970 bruchlos Bezirksheimatpfleger und hatte viele Möglichkeiten, die historische Rolle wichtiger Persönlichkeiten der NS-Zeit, auch im eigenen Interesse, nach seinen Bedürfnissen zu deuten. Etliche seiner Einstellungen sind auch nach 1945 geblieben: 1947 wetterte er gegen die „fremden Volksmassen“ der Heimatvertriebenen, die „die Heimat überfluten“, 1956 sah er für Europa die größte Gefahr „im Schwinden und Zerfall unserer biologischen Kraft“. Er schrieb regelmäßig über den „Schwabenstamm“ und die „Allgäuer Rasse“ und verunglimpfte amerikanische Tanzmusik als „Trommelrhythmen afrikanischer Menschenfresser“. (18)

Zurück zur ursprünglichen Fragestellung: Es gilt zu untersuchen, wie Otto Merkt seine Macht bis 1942 absichern konnte. Inwieweit trug seine erfolgreiche Kommunalpolitik dazu bei? Wie stark waren seine Netzwerke? Welche Schichten bildeten seine gesellschaftliche Basis? Wie stark war seine Verwurzelung im nationalsozialistischen System? Welche Handlungsspielräume hatte er? War er in der Kemptener Bevölkerung wegen oder trotz seiner Nähe zum Nationalsozialismus geschätzt? 

Deutschlands Eliten sicherten dem neuen Regime „ihre ausdrückliche oder stillschweigende Unterstützung“ zu, stellte Saul Friedländer fest. (19) „Der ‚Führer‘ hatte wegen seiner Erfolge bis 1943 die große Mehrheit hinter sich. Bereitschaft zum Widerstand gegen die Diktatur hieß daher immer auch, in sozialer Isolierung von der Bevölkerung und der Front denken und handeln zu müssen,“ diagnostiziert Hans-Ulrich Wehler. (20) Hat es unter diesen Umständen einen Sinn, über „Lippenbekenntnisse“ zu sprechen? Die Entstehung der Sphäre einer „zweiten Gesellschaft“, „zweiten Öffentlichkeit“, eines „zweiten Bewusstseins“ und einer Sprache, in der man Meinungen „zwischen den Zeilen“ sagen und lesen lernt, setzt voraus, dass sich breite Schichten der Gesellschaft mit dem politischen System nicht richtig identifizieren wollen. Dieses Phänomen war eher ein Spezifikum der Diktaturen Ostmitteleuropas nach der Überwindung des Stalinismus. Große Teile der Bevölkerung machten bei den „destruktiven Absurditäten des politischen Spiels“ mit, damit sie sonst in Ruhe gelassen wurden. György Konrád, Adam Michnik und Václav Havel kritisierten Mitte der 1980er Jahre dieses allzu menschliche Benehmen und forderten die Menschen zu einer Haltung der „Antipolitik“ auf. (21) Dem gegenüber übte in Deutschland in der NS-Zeit das Konzept der „Volksgemeinschaft“ auf die, die von dieser integriert wurden, eine zu große Anziehungskraft aus. Es gab zu wenige, die in diesem System das Bedürfnis hatten, sich zu verstellen. Oder wie Jan Philipp Reeetsma formulierte: „Das Bild einer nur passiven Bevölkerung zu zeichnen, der es allein an dem Heldenmut gefehlt habe, ist historisch falsch.“ (22)

b) Die alte Elite, die in der bürgerlichen Welt des Kaiserreichs sozialisiert wurde und zu der Otto Merkt zählte, sollte mit der „Generation der Unbedingten“ verglichen werden, zu der beispielsweise Weitnauer oder Knussert gehörten. (23) Ihr Verhältnis zur Politik beschreibt Michael Wildt folgender Weise: „Politik allerdings stellte sich für alle keineswegs als das beharrliche Bohren dicker Bretter dar, nicht als Aushandeln von Kompromissen oder als geduldiges Formulieren von Erlassen und Verordnungen. Politik war ihnen vielmehr Gestaltungsfeld, Arena des Willens, wie sie es in der kurzen revolutionären Phase im Frühjahr 1933 erlebt hatten. Politik betraf stets das Ganze, das nicht kleinlicher Ziele wegen aus dem Auge verloren werden durfte. Politische Probleme galt es mit Entschiedenheit und Unbedingtheit, mit Schärfe und Rücksichtslosigkeit zu lösen.“ (24) Auch die biografische Annäherungsweise von Wildt kann zielführend sein. (25) Unter den von ihm untersuchten Personen gibt es übrigens auch einen „Allgäuer“, den 1907 in Bühl am Alpsee (heute Immenstadt) geborenen promovierten Germanisten Wilhelm Spengler, Leiter der Gruppe III C Kultur im Reichssicherheitshauptamt. (26) 

Vielversprechend ist es auch, die Lebenswege dieser Generation nach 1945 unter die Lupe zu nehmen. „Mehrheitlich zwischen 1905 und 1915 geboren, waren sie 1950 zwischen 35 und 45 Jahre alt und standen im Zenit ihrer Leistungskraft. Den Verlust des Kriegs hatten sie rechtshegelianisch als Weltgericht hingenommen, für eine tiefergreifende Reflexion eigener Schuld gibt es nicht einen signifikanten Beleg,“ schreibt Lutz Hachmeister über die Rolle des SD-Personals in der Nachkriegszeit und setzt fort: „Diese Männer der ‚Generation der Unbedingten‘ hatten Fertigkeiten erlernt und Tugenden erprobt, die in der westlich orientierten, sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik sehr brauchbar waren: Durchsetzungsvermögen, zeitliche Flexibilität und Schnelligkeit, effizientes, zweckorientiertes Handeln, wissenschaftliches Denken und strategische Planungskompetenz, historisch-politisches Bewusstsein, Belastungsfähigkeit, aber eben auch Desensibilisierung, ‚sachliche Kälte‘, Unterdrückung situativer Emotionen, Denunziationsstrategien, ausgeprägte männerbündische Kameraderie.“ (27)

c) Es ist mit Sicherheit lohnenswert, Martina Stebers Hinweisen folgend die Geschichte der Akademischen Ferienvereinigung Algovia unter die Lupe zu nehmen. Dieser studentenverbindungsähnliche Zusammenschluss von in Kempten geborenen Akademikern galt traditionell als Personalreservoir der Kemptener Bürokratie und stand unter Merkts Führung als Philistersekretär. Sie wurde von der alten konservativ-liberalen Elite dominiert und vertrat deren Interessen gegenüber der neuen nationalsozialistischen Elite, sie nahm auch nach 1933 Einfluss auf konkrete Personalentscheidungen. Gleichzeitig ging sie laut Herbert Müllers Analyse mit ihr Kompromisse ein und stabilisierte dadurch das lokale NS-Regime. (28) Die Vereinigung existiert bis heute; auf ihrer Internetseite wird Folgendes behauptet: „Die Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft überstand sie, indem sie sich zur Organisation der Heimatpflege erklärte.“ (29) Es wäre wunderbar, wenn Historiker*innen unter den jetzigen Mitgliedern der Organisation selber überprüfen würden, ob diese Aussage die historische Wahrheit nicht doch etwas vereinfacht darstellt.

3. Es ist anzunehmen, dass die Stadtverwaltung zu den „Stützpfeilern“ der NS-Herrschaft gehörte, aber in Kempten weiß man noch zu wenig darüber.

Für die historische Beurteilung von Oberbürgermeister Merkt dürfte die sachliche Analyse der Rolle der von ihm geführten Stadtverwaltung ausschlaggebend sein. (30) Konnte sie bzw. wollte sie Gegengewicht zu den Nationalsozialisten bilden oder hat sie das Regime sogar „mit vorauseilendem Gehorsam“ mit den Mitteln einer professionellen Bürokratie unterstützt? 

Fragestellungen für die weitere Forschung:
a) Maren Janetzko untersuchte die Rolle der Stadtverwaltungen von Augsburg und Memmingen bei der „Arisierung“ jüdischen Vermögens und stellte am Ende fest: „Mögen auch im Falle Augsburgs und Memmingens die beiden Stadtoberhäupter einzelnen, ihnen persönlich bekannten jüdischen Einwohnern in bedrohlichen Situationen geholfen haben, so zeigt die Rolle ihrer Stadtverwaltungen bei der Verdrängung jüdischer Unternehmer und der ‚Arisierung‘ ihres Eigentums, dass von einer nur zögerlichen Umsetzung der nationalsozialistischen ‚Judenpolitik‘ nicht gesprochen werden kann. Im Gegenteil nutzten die Stadtverwaltungen ihre Handlungsspielräume, um jüdischen Gewerbetreibenden sukzessive die Existenzgrundlage zu entziehen.“ (31) Es sind mehrere Fälle bekannt, dass Oberbürgermeister Merkt auch einzelnen jüdischen Bürgern half, vor allem Stadtrat Sigmund Ullmann, aber auch Bruno Kohn. (32) Die Frage, inwieweit die zweite Aussage von Maren Janetzko auch auf die Stadtverwaltung Kempten zutraf, kann man nur durch gründliche Quellenanalyse beantworten.

Wolf Gruner geht in seiner Analyse über die Rolle der Kommunen bei der NS-Judenverfolgung weiter: Seit 1933 haben die Kommunen ganze Kataloge örtlicher Maßnahmen entwickelt, die – den Bestimmungen auf Reichsebene zum Teil Jahre vorauseilend – die Teilnahme jüdischer Einwohner am städtischen Leben ebenso einschränkten wie deren Gewerbe- und Berufsausübung.“ (33) Er stellte auch fest, dass spätestens seit dem Sommer 1933 diese Aktionen vom Deutschen Gemeindetag und dessen Regionalstellen koordiniert wurden. (34) Gruner hat in seine Analyse vor allem Quellen aus Großstädten einbezogen. Wie war das in Kempten? Lassen sich hier auch die vom Gemeindetag vorgegebenen Schritte nachverfolgen? Gehörte die Stadt eher zu den Vorreitern oder zu den Bremsern?

b) Bereits 1941 stellte der jüdische Rechtswissenschaftler Ernst Fraenkel, der 1938 Deutschland verlassen musste, in seinem Buch „Der Doppelstaat“ (35) fest, dass es im „Dritten Reich“ zwischen dem „Normenstaat“, verkörpert durch die traditionellen Verwaltungsorgane, und dem „Maßnahmenstaat“, verkörpert durch Kommissare, Sonderbevollmächtigte und die Einrichtungen der NSDAP, zu erheblichen Konflikten kam. Diese führten allerdings nicht zu dem von ihm diagnostizierten selbstzerstörerischen Chaos bzw. zur Funktionsunfähigkeit. Fraenkel erkannte, dass die neuen Machthaber auf die Strukturen und Expertise der Verwaltungen angewiesen waren und dass sie durch die Einführung des Ausnahmezustandes das Rechtssystem nicht abschafften. Es wurden aber Räume geschaffen, in denen es nicht mehr galt. Es galt jedoch weiterhin, in veränderter Form, für die Mitglieder der Volksgemeinschaft. Menschen, die außerhalb der Gemeinschaft waren, galten jedoch als wirkliche oder potentielle Feinde. Das „Volk“ wurde das Maß aller Dinge: „Alles, was dem Volk nützt, ist Recht; alles, was ihm schadet, ist Unrecht,“ äußerte sich Hans Frank bereits 1926 in einem Vortrag (36). Und im „Nationalsozialistischen Handbuch für Recht und Gesetzgebung“ schrieb der im April 1933 ernannte Reichskommissar für die Gleichschaltung der Justiz und für die Erneuerung der Rechtsordnung, die wesentliche Aufgabe der nationalsozialistischen Rechtspolitik sei, dass „das Recht allein dem deutschen Volke dienstbar gemacht“ (37) werde.

Michael Wildt schlägt vor, Fraenkels Modell „aus seiner Statik zu lösen und zu dynamisieren“ (38) und unsere Aufmerksamkeit auf die „Transformation des Staates durch die Nationalsozialisten“ (39) zu lenken. In den Verwaltungen werden politische Entscheidungen vorbereitet und später umgesetzt, die Bedeutung dieser Funktionen im NS-System wurde lange unterschätzt. Sabine Mecking und Andreas Wirsching betonen: „Es ist unstrittig, dass die öffentliche Verwaltung sowohl als Institution als auch als ‚Personalkörper‘ eine zentrale Säule des NS-Staates darstellte.“ (40) Sie schreiben über „Legenden“, die in der Nachkriegszeit entstanden sind: „Nicht selten handelten sie von moralisch integer gebliebenen Berufsbeamten, die in den Behörden unbeschadet der rassenideologischen Vorgaben und Pressionen bis zuletzt nur ihre Pflicht getan und Schlimmeres verhütet hätten.“ (41) Neue Forschungsergebnisse über die Rolle der Finanzverwaltung bestätigen, dass die Diskrepanz zwischen den Zielen der Behörden des „Normenstaates“ und der Organe des „Maßnahmenstaates“ gar nicht so groß war, wie bisher angenommen. (42)

Für die Forschung in Kempten stellen sich u.a. folgende Fragen:

- Ist die rassistische nationalsozialistische Weltanschauung in der hiesigen Stadtverwaltung genauso in kurzer Zeit zur Richtschnur der Entscheidungsbildung erhoben worden, wie Christiane Kuller für alle Handlungsfelder der Staatsverwaltung feststellt? (43) 
- Wie war das Verhältnis zwischen der Führungsebene der Verwaltung und den einzelnen Mitarbeiter*innen? „Im ‚Dritten Reich‘ ist Entscheidungsbildung in den Verwaltungen durchaus nicht immer nur ein Top-down-Prozess gewesen. Nicht selten ergriffen auch Mitarbeiter auf nachgeordneten Ebenen die Initiative. Sowohl mildernde Modifikationen als auch Impulse zur Radikalisierung gingen ‚von unten‘ aus.“ (44) Gibt es dafür in der Kemptener Stadtverwaltung konkrete Beispiele?
- Wer hatte in Kempten die Definitionshoheit darüber, in welchen Bereichen die alten Normen galten und in welchen die außerordentlichen „Maßnahmen“ durchzuführen waren? „Entscheidende Bedeutung kam vor allem dem persönlichen Verhältnis zu zwischen dem jeweiligen (Ober-)Bürgermeister und dem Kreisleiter – der meist als Beauftragter der Partei gemäß der Deutschen Gemeindeordnung von 1935 fungierte – und dem Gauleiter als dem stärksten „Hoheitsträger“ der Partei vor Ort,“ (45) schreiben Sabine Mecking und Andreas Wirsching. Es ist eine spannende Aufgabe, die Macht- und Kommunikationsverhältnisse zwischen Merkt, Brändle und Wahl zu untersuchen und nachzuzeichnen, wie sich diese verändert haben.
- Es stellt sich auch für Kempten die Frage, ob lokale und regionale Traditionen sowie gegebenenfalls fortbestehende (Teil-)Autonomien mäßigend auf die Radikalität des Regimes einwirkten oder ob sie im Gegenteil dessen Dynamik gar beförderten.“ (46)
- Man sollte feststellen: Wie groß war die personelle Fluktuation in der Verwaltung? Wie viele Beamt*innen wurden entlassen und durch treue Parteiangehörige ersetzt? Wie groß war der Druck auf die einzelnen Mitarbeiter*innen? Wie viele waren vor 1933 NSDAP-Mitglied und wie viele traten nach der Machtübernahme der Partei bei?
- Wie groß war die Entscheidungsfreiheit der Verwaltung in Steuerangelegenheiten, bei Projekten der Stadtentwicklung oder beim Wohnungsbau? Welche Rolle spielte sie bei der „Arisierung“ jüdischen Besitzes oder bei der Organisation der Zwangsarbeit? 
- Man sollte auch die Frage stellen: Wie lief die Zusammenarbeit zwischen der Kemptener Stadtverwaltung und den anderen Behörden ab?

c) Der große Widerwillen von Hitler, Himmler, Heydrich und anderen NS-Führern Juristen gegenüber erklärt sich laut Michael Wildt durch „die klare politische Ablehnung jeglicher juristischer, das heißt systematischer, einheitlicher, durchschaubarer und in der Reichweite ihrer Gültigkeit verbindlich definierter Regulierungsansprüche.“ (47) Gleichzeitig stellt er fest: „Wohl kaum ein Berufsstand in Deutschland hat dem nationalsozialistischen Regime von Anbeginn an so bereitwillig in die Hände gearbeitet wie die Juristen.“ (48) Es ist mit Sicherheit interessant, das persönliche Berufsethos von Otto Merkt und dessen Änderungen unter die Lupe zu nehmen.

d) Da die Bürger*innen sich auf den Schutz eines bürgerlichen Rechtssystems nicht mehr verlassen konnten, bekam ein Netz von Loyalitäten und Seilschaften eine immer größere Rolle, ähnlich wie im feudalen Lehnwesen. Kann man diese Netzwerke auch in Kempten nachzeichnen?

Im gesamten Vortrag von Martina Steber und auch in ihren Schriften ist eine weitere These von zentraler Bedeutung, auf die ich auch hier eingehen möchte:

4. „Die Nationalsozialisten machten sich den Ordnungsentwurf des Regionalen zu eigen.“ (49)

In einem mit Winfried Müller verfassten Aufsatz über die Rolle des Begriffs „Heimat“ in den regionalen Identitätsstrukturen schreibt Martina Steber: „Der Heimatbegriff war ubiquitär in der Weimarer Republik, und das nicht nur im bayerischen Schwaben. Heimatfeste wurden gefeiert, Heimattage mit bildendem Charakter veranstaltet, Heimattanzgruppen gegründet, Heimattrachtenfeste veranstaltet, Heimatmuseen eingerichtet bzw. existierende Museen nach dem Heimatprinzip neu geordnet, Heimatkunde in den Schulen gelehrt, Heimatbeilagen in den Tageszeitungen gelesen. In der Verpflichtung auf die ‚Heimat‘ waren sich alle politischen Lager einig. Allerdings variierten die Deutungen des Heimatlichen deutlich. […] ‚Heimat‘ wertete die ländliche und kleinstädtische Lebenswelt, die die Region prägte, gegenüber der als Bedrohung empfundenen urbanen Kultur der Metropolen auf. Der Begriff akzentuierte die Bedeutung von Tradition, ohne in einen antimodernen Fundamentalismus zu verfallen. Aus der „Heimat“ schien die allenthalben erhoffte Erneuerung möglich. Das Regionale wurde im bayerischen Schwaben der Weimarer Republik mithin zu einem umfassenden und breit rezipierten Ordnungsentwurf. Unter dem Mantel des „Unpolitischen“ verborgen transportierte er einen antipluralistischen, ethnonationalistischen, kulturkritischen und utopischen Entwurf einer „anderen Moderne“, die die als unzureichend erlebte Gegenwart transzendierte. Dabei öffneten die unhinterfragten ethnischen Gewissheiten des Ordnungsentwurfs des Regionalen die Türen für die vielfältige Anlagerung von Ideologemen neu-rechten Denkens. Besonders in den Krisenjahren am Ende der Republik wurden biologistische und rassistische Ideologeme zur Selbstverständlichkeit im Diskurs um die Region und das Regionale.“ (50)

Fragestellungen für die Kommunal- und Bildungspolitik:

a) Regionale Identitäten spielen auch heute eine große Rolle, ganz besonders im Allgäu. Auch der Begriff „Heimat“ erlebte in den letzten Jahren eine große Renaissance in der bayerischen und bundesdeutschen Kultur. Wir haben seit 2018 sogar auf Bundesebene ein Heimatministerium. Dessen Gründung motivierte 14 Autor*innen zur Herausgabe ihrer protestierenden Beiträge unter dem Titel „Eure Heimat ist unser Albtraum“. „‘Heimat‘ ist auch ein integraler Teil der faschistischen NS-Ideologie und somit kaum ohne Zusammenhang zur Shoah denkbar. Und nun wird ein Ministerium danach benannt. Das Wort wird somit normalisiert. Ohne Diskussion. Ohne jegliche Begründung. Einfach so“, steht es im Vorwort. (51)

Genau die hier vermisste Diskussion sollten wir führen, in der Zivilgesellschaft, in Schulen, in der Jugend- und Erwachsenenbildung usw. Der Blick in die Vergangenheit muss dabei genauso eine wichtige Rolle spielen wie die Analyse der Gegenwart und die Prognose für die Zukunft. 

Armin Nassehi meint, der „Heimatbegriff“ sei in doppeltem Sinne ambivalent: 1. „Wer von Heimat redet, sie gar beschwört, macht sich verdächtig, der Komplexität der modernen Welt nicht wirklich gewachsen zu sein.“ 2. „Eine stark emotionalisierte Semantik der Heimat entsteht erst dort, wo sie letztlich verloren ist, zumindest als alternativlose Form der Zugehörigkeit.“ (52) Wir müssen uns die Fragen stellen: Korrespondiert die Vorstellung der „anderen Moderne“ in der Heimatpflege, die die Weltanschauung u.a. von Oberbürgermeister Merkt prägte und die damals als Gegenentwurf zum Kosmopolitismus der Weimarer Republik entworfen wurde (53), mit dem rechtspopulistischen Heimatbegriff unserer Zeit, der die Komplexität der globalisierten Welt als Überforderung darstellt und das romantisierte Bild einer ethnisch homogenen Heimat als Gegenentwurf vorgaukelt? Wie groß war und ist der Zusammenhang zwischen Ambiguitätsintoleranz und Rassismus? 

Stephan Lessenich beschreibt, wie unser demokratisches System auch heute Menschen, u.a. wegen ihrer Herkunft, von der gesellschaftlichen und politischen Teilhabe ausschließt. (54) Naika Foroutan analysiert, welche Auswirkungen die Diskrepanz zwischen der im Grundgesetz angelegten Einheit in Vielfalt, dem Gleichheitsversprechen, das durch die politische Bestätigung Deutschlands als Einwanderungsland 2001 ausgesprochen wurde, und der gesellschaftlichen Realität in unserer postmigrantischen Gesellschaft, in der diese Norm bei der Umsetzung empirisch scheitert, verursacht. (55) „Migrant*innen wird vorgeworfen, sich nicht mit Deutschland zu identifizieren – gleichzeitig werden sie als Fremde externalisiert,“ (56) schreibt sie. Deshalb müssen wir die Frage stellen: Ist unser heutiger Heimatbegriff integrativ oder nach wie vor ausschließend? Können wir die binäre Codierung in Einheimische und Eingewanderte (57) endlich hinter uns lassen? Akzeptieren wir simultane Zugehörigkeiten als die neue Normalität in der globalisierten Welt und dadurch die Existenz mehrerer Heimaten? 

b) Von Norbert Elias stammt die Beschreibung der Konfliktlinie zwischen Etablierten und Außenseitern, also zwischen denen, die schon länger da sind und denen, die neu hinzukamen. (58) Daraus entwickelte der Bielefelder Politologe Wilhelm Heitmeyer den Terminus „Etabliertenvorrechte“ als ein Element der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“. Er definiert den Begriff folgender Weise: „Etabliertenvorrechte umfassen die von Alteingesessenen, gleich welcher Herkunft, beanspruchten raum-zeitlichen Vorrangstellungen, die auf eine Unterminierung gleicher Rechte hinauslaufen und somit die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Gruppen verletzen.“ (59) Heitmeyer weist auch darauf hin, dass diese Form ihre zerstörerische Kraft vielfach latent ausübt und dass sie oft andere Formen der Menschenfeindlichkeit verschleiert bzw. vornehm verdeckt. Es besteht auch die Gefahr, dass die betroffenen Personen leicht auf die anderen Formen wie Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Heterophobie, Islamphobie oder Sexismus überspringen. (60) Die Frage liegt auf der Hand: Wie sieht es damit im Allgäu und in Kempten aus? Ich würde darüber vor allem offene Diskussionen unter Jugendlichen begrüßen.


„Erinnern bedarf der Darstellung“, schreibt Aleida Assmann. (61) Die letzte große Frage, die wir uns stellen sollten, ist, wie diese Darstellung in Kempten aussehen soll. Dazu möchte ich einige stichpunktartige Anregungen in Frageform geben:

1. Wie wollen wir die Stadt als Erinnerungsraum etablieren? Wollen wir bei der Umgestaltung der Allgäu-Halle anfangen? Welche Ausstellungen und Veranstaltungen sind sinnvoll? Ein Blick nach Murnau, wo zurzeit eine Ausstellung unter dem Titel „Es kommen kalte Zeiten“ zeigt, wie sich die NS-Herrschaft auf den Tourismus vor Ort auswirkte (62), wäre sinnvoll. Wie kann man die Schulen in den Prozess einbeziehen? 

2. Wie schaffen wir ein kollektives Narrativ für die Stadt und die Region, das kritisch, identitätsstiftend und integrativ wirkt?

3. Wie können wir unsere Vergangenheit als Ressource für die Gegenwart und die Zukunft nutzen? „Da der Wert der Menschenwürde aus der äußersten Vernichtung der Menschenwürde gewonnen wurde,“ (63) muss die Erhaltung dieser im Fokus unserer Aufmerksamkeit bleiben. Wie können wir die gewonnen Ressourcen dafür nutzen, dass die rechten Sprüche auf weniger Resonanz stoßen und weniger politische Wirkungsmacht bis in die Mitte der deutschen Gesellschaft erreichen? (64)

4. Welchen Beitrag kann Kempten mit seinen fünf europäischen Partnerstädten leisten, um durch das von Aleida Assmann vorgeschlagene „dialogische Erinnern“ (65) zur Stärkung der Europäischen Union beizutragen? Wie kann man den derzeitigen „Dialog unter Schwerhörigen“ (Marc Bloch) in einen Dialog der gegenseitigen Verständigung umwandeln? „Das Gebot der Stunde [ist] die Stärkung Europas als eine auf humane Prinzipien gegründeten Solidargemeinschaft. Europa erlebt gerade seinen ultimativen Belastungstest: Es hat Rahmenbedingungen eines Lebens in Frieden und Freiheit geschaffen und ist zum Ideal und Anziehungspunkt für Flüchtlinge geworden, die diese Güter gerade verloren haben. Wenn wir ihre Hoffnungen zerstören, zerstören wir zugleich auch unsere eigenen Werte und unsere Zukunft,“ schreibt Aleida Assmann. (66) 

5. Wie wird die Zeit des Nationalsozialismus in einer Zeit ohne Zeitzeug*innen jungen Menschen nähergebracht? Wie schafft man zeitgemäße „Lernräume“? Das dürften die allerwichtigsten Fragestellungen bleiben! Dana Giesecke und Harald Welzer (67), aber auch Jan Philipp Reemtsma (68) haben einige Ideen eingebracht, die wir ergänzen können. Wir sollten mit jungen Menschen über folgende Fragen diskutieren:
- Woran merkt man, dass in einer Gesellschaft grundlegende Änderungen passieren, obwohl die wesentlichen Parameter des Alltaglebens sich kaum ändern?
- Wie schnell kann man Menschen aus einer Gemeinschaft ausschließen, ohne dass schlagkräftig dagegen protestiert wird?
- Wie bindet man Menschen an ein menschenverachtendes Regime, indem man sie zu dessen Profiteuren macht? Wie kann man Menschen instrumentalisieren?
- Wie findet man Handlungsspielräume dort, wo andere keine sehen?
- Wie können bestehende soziale Netzwerke als Ressource verwendet werden, um anderen zu helfen?
- Warum entscheiden sich Menschen in kritischen Situationen unterschiedlich?
- Wie kann ein Einzelner dem Druck der Mehrheit widerstehen? Wie stärkt man die Bereitschaft zum abweichenden Verhalten?
- Wie entwickelt man eine stabile und sichere Identität und eine partizipative und demokratieorientierte Persönlichkeit?
- Wie bekämpft man Gleichgültigkeit?
- Was motivierte Menschen dazu, Widerstand zu leisten oder anderen zu helfen, obwohl sie sich dabei selber in Gefahr brachten? Gibt es typische Helferpersönlichkeiten?
- Können die Generationen, für die Günter Gaus den Begriff der „Gnade der späten Geburt“ verwendete, sich ernsthaft die Frage stellen, wie sie sich in der NS-Zeit verhalten hätten?
- Wie geht man mit der Ausrede um: Hätte ich es nicht getan, hätte es ein anderer getan?
- Wie geht man mit den unterschiedlichen Wahrheiten der einzelnen historischen Persönlichkeiten um?
- Wie kann es einem gelingen, unter den unmenschlichsten Verhältnissen seine Würde zu bewahren?
- Wie war der Umgang mit Geflüchteten damals und wie ist es heute? 

Dass viele junge Menschen heute sensibel mit dem Thema Rassismus umgehen, sieht man an den aktuellen Reaktionen auf die „Black Lives Matter“-Bewegung. Die am 12. Juni 2020 von Jugendlichen organisierte Kundgebung auf dem Hildegardplatz zeigte, wie man sich gleichzeitig sachlich und emotional, faktenreich und künstlerisch an das Thema nähern und Menschen mitnehmen kann. Mark Terkessidis stellt aktuell die Frage, was es für unsere Erinnerungskultur bedeutet, wenn Geflüchtete aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara betonen: „Wir sind hier, weil ihr bei uns wart.“ (69) Die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Kolonialgeschichte steht uns auch noch bevor. Es ist kein Zufall, dass im Koalitionsvertrag der jetzigen Regierung aus dem Jahr 2018 das erste Mal neben der Aufgabe der „Aufarbeitung der NS-Terrorherrschaft und der SED-Diktatur“ auch die kritische Beschäftigung mit „der deutschen Kolonialgeschichte“ steht. (70)


Anmerkungen:
1. „Bei der Aufarbeitung nichts zudecken“, Allgäuer Zeitung, 22.06.2020
2. Der israelische Historiker David Bankier hat bereits 1992 eine entsprechende Analyse für das „Dritte Reich“ vorgelegt. Deutsche Ausgabe: Bankier, David: Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat, Berlin 1995
3. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Vierter Band, München 2003, S. 675.
4. Steber, Martina: Ethnische Gewissheiten, Göttingen 2010, S. 412.
5. Ebd., S. 448.
6. Ebd. S. 414ff.
7. Gellately, Robert: Hingeschaut und weggesehen, Stuttgart 2002
8. Knab, Jakob: Falsche Glorie, Berlin 1995, S. 16f.
9. https://www.all-in.de/kempten/c-lokales/carl-diem-weg-tendenz-geht-zur-umbenennung_a195966 und https://www.all-in.de/kempten/c-lokales/diem-weg-karl-statt-carl-soll-streit-beenden_a196885 
10. Eine wissenschaftliche, noch nicht veröffentlichte, Analyse von Christina Rothenhäusler liegt vor und wird nach der Aussage von Oberbürgermeister Kiechle gerade in die Diskussion einbezogen (siehe Anmerkung 1).
11. Jessen, Jens: Der neue Bildersturm, in: Die Zeit, 18.06.2020
12. Reemtsma, Jan Philipp: Laudatio für Saul Friedländer anlässlich der Verleihung des Geschwister-Scholl Preises, S. 184, in: Reemtsma, Jan Philipp: „Wie hätte ich mich verhalten?“ und andere nicht nur deutsche Fragen, München 2001, S. 171-185.
13. Peinkofer, Michael: Angriff auf Denkmäler, Allgäuer Zeitung, 27.06.2020
14. https://www.allgaeuer-zeitung.de/allgaeu/kempten/der-widerstand-der-dekane_arid-129362; Weber, Thomas: Hitler’s First War, Oxford 2010, S. 309f.; Müller, Herbert: Kempten im Dritten Reich, S. 441 und 445, in: Dottenweich, Volker/Filser, Karl/Fried, Pankraz/Gottlieb, Gunther/Haberl, Wolfgang/Weber, Gerhard (Hrsg.): Geschichte der Stadt Kempten, Kempten 1989, S. 435-448.
15. Steber 2010, S. 373, Steber, Martina: Eine „goldene Brücke“ ins ‚Dritte Reich‘? Heimat- und Geschichtsvereine im Gau Schwaben, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 141/142 (2005/2006), S. 75-105.
16. Gotto, Berhard: Nationalsozialistische Kommunalpolitik, München 2006, S. 69f.
17. Römer, Gernot: Es gibt immer zwei Möglichkeiten, Augsburg 2000, S. 97.
18. Steber 2010, S. 317, Müller, Winfried/Steber, Martina: „Heimat“. Region und Identitätskonstruktion im 19. und 20. Jahrhundert, S. 670f. in: Freitag, Werner/Kißener, Michael/Reinle, Christine/Ullmann, Sabine (Hg.): Handbuch Landesgeschichte, Berlin – Boston 2018, S. 646-676.
19. Friedländer, Saul: Das Dritte Reich und die Juden. I. Die Jahre der Verfolgung 1933-1939, München 1998, S.73
20. Wehler, Hans-Ulrich: Der Nationalsozialismus. Bewegung, Führerschaft, Verbrechen 1919-1945, München 2009, S. 249
21. Hankiss Elemér: Kelet-európai alternatívák, Budapest 1989, S. 186f.
22. Reemtsma 2001, S. 185 
23. Steber 2010, S. 477
24. Wildt, Michael: Generation der Unbedingten, Hamburg 2002, S. 204f.
25. s. dazu auch: Roseman, Mark: Lebensfälle: Biografische Annäherungen an NS-Täter, in: Bajohr, Frank/ Löw, Andrea (Hg.): Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt/M. 2015, S. 186-209
26. s. auch Simon, Gerd: Germanistik und Sicherheitsdienst, in: Wildt, Michael (Hg.): Nachrichtendienst, politische Elite und Mordeinheit, Hamburg 2003, S. 190-203.
27. Hachmeister, Lutz: Die Rolle des SD-Personals in der Nachkriegszeit. Zur nationalsozialistischen Durchdringung der Bundesrepublik, S. 356f, in: Wildt 2003, S. 347-369.
28. Müller 1989, S. 419, Müller, Herbert: Parteien- oder Verwaltungsvorherrschaft? München 1988, S. 49f.
29. http://www.algovia.de/geschichte.htm (Stand: 25.06.2020)
30. Für die Stadt Augsburg legte Bernhard Gotto eine ausführliche Analyse vor, die für Arbeit in Kempten gute Ansätze und Vergleiche bietet: Gotto 2006.
31. Janetzko, Maren: Die Verdrängung jüdischer Unternehmer und die „Arisierung“ jüdischen Vermögens durch die Stadtverwaltungen Augsburg und Memmingen, S. 296, in: Mecking, Sabine/Wirsching, Andreas (Hg.): Stadtverwaltung im Nationalsozialismus, Paderborn 2005, S. 277-298.
32. Römer 2000, S. 96f.
33. Gruner, Wolf: Die NS-Judenverfolgung und die Kommunen, S. 76, in: Vierteljahreshälfte für Zeitgeschichte 1/2000, S. 75-126.
34. Ebd. S. 87
35. Fraenkel, Ernst: Der Doppelstaat. Recht und Justiz im „Dritten Reich“, Frankfurt/M. 1974. Die amerikanische Originalausgabe erschien 1941.
36. Wildt, Michael: Die Ambivalenz des Volkes, Berlin 2019, S. 310
37. Ebd.
38. Ebd. S. 321.
39. Ebd. S. 269.
40. Mecking, Sabine/Wirsching, Andreas: Stadtverwaltung als Systemstabilisierung? Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume kommunaler Herrschaft im Nationalsozialismus, S. 2, in: Mecking/Wirsching 2005, S. 1-19.
41. Ebd.
42. s. beispielsweise die entsprechenden Publikationen von Christiane Kuller und Martin Friedenberger
43. Kuller, Christiane: Verwaltung und Verbrechen, S. 436, in: Nerdinger, Winfried (Hg.): München und der Nationalsozialismus, München 2015, S. 435-442.
44. Ebd.
45. Mecking/Wirsching 2005, S. 7f.
46. Ebd. S. 6.
47. Wildt 2019, S. 273.
48. Ebd. S. 307.
49. Müller/Steber 2018, S. 668.
50. Ebd. S. 667f.
51. Aydemir, Fatma/Yaghoobifarah,Hengameh (Hg.): Eure Heimat ist unser Albtraum, Berlin 2019, S. 10.
52. Nassehi, Armin: Die empirische Heimatlosigkeit der Moderne. Skizze einer Leerstelle, S. 47, in: Hemel, Ulrich/Manemann, Jürgen (Hg.): Heimat finden – Heimat erfinden, Paderborn 2017, S. 47-59.
53. Steber, Martina: Politik für eine „andere Moderne“. Kempten, Otto Merkt und „Heimatpflege in der Stadt“, in: Schmiechen-Ackermann, Detlef/Kaltenborn, Steffi (Hrsg.): Stadtgeschichte in der NS-Zeit, Münster 2005, S. 92-108.
54. Lessenich, Stephan: Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem, Stuttgart 2019
55. Foroutan, Naika: Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie, Bielefeld 2019
56. Ebd. S. 226.
57. Ebd. S. 19.
58. Elias, Norbert/Scotson, John L.: Etablierte und Außenseiter, Frankfurt/M. 2002
59. Heitmeyer, Wilhelm: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und empirische Ergebnisse 2002 sowie 2003, S. 15, in: Heitmeyer, Wilhelm (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 2, Frankfurt/M. 2003.
60. Ebd. S. 26.
61. Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013, S. 206.
62. s. Reithmaier, Sabine: Völkisch-brauner Hass auf Touristen, Süddeutsche Zeitung, 13.06.2020
63. Assmann, Aleida: Ist die Zeit aus den Fugen? München 2013, S. 318.
64. Frei, Norbert/Maubach, Franka/Morina, Christina/Tändler, Maik: Zur rechten Zeit, Berlin 2019, S. 8f.
65. Assmann, Aleida: Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur? Wien 2012, S. 54.
66. Assmann, Aleida: Menschenrechte und Menschenpflichten, Wien 2018, S. 22f.
67. Giesecke, Dana/Welzer, Harald: Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2012.
68. Reemtma, Jan Philipp: „Wie hätte ich mich verhalten?“ und andere nicht nur deutsche Fragen, München 2001
69. Terkessidis, Mark: Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute, Hamburg 2019, S. 70.
70. Ebd. S. 10.
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