K3Integration

Integration versus interkulturelles Zusammenleben

„Man kommt nicht als Migrant zur Welt, man wird es.“ „Kein Migrant hat jemals sein Leben frei von Konventionen und Vorurteilen gelebt.“ „Migranten, die Positionen erreichen, in denen sie aktives Handeln zeigen, einschließlich Kompetenz, Zuversicht und Selbstbewusstsein, werden häufig mit ‚sozialer Missbilligung‘ bestraft.“ „Einheimische sind in einer Gesellschaft, die Migranten zum ‚Anderen‘ macht, im Vorteil.“ „Migranten ist es erlaubt, ihre eigenen Interessen zu vertreten oder ihren Opferstatus zur Schau zu stellen.“ „Für einen Migranten ist es sehr viel einfacher, Minister für Integration zu werden als etwa Finanzminister.“ „Man kann sich aufrichtig wünschen, dass sie ins Innere der Macht gelangen, gleichzeitig aber werden Migranten auf unterschiedliche, häufig unbewusste Weise als Eindringlinge dargestellt.“

Die obigen Sätze stammen aus zwei Klassikern der feministischen Literatur, aus Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“ und aus Mary Beards Manifest „Frauen & Macht“, ich habe lediglich das Wort „Frau“ durch „Migrant“ und das Wort „Männer“ durch „Einheimische“ ersetzt. In dem ursprünglichen Text geht es natürlich auch um eine „Ministerin für Frauen“. Bei den Formulierungen bin ich bei der männlichen Form geblieben, in der weiblichen Variante hätten manche Aussagen eine doppelte Aussagekraft.

Wir stecken mitten drin in der nächsten Phase der in meinem letzten Beitrag bereits angesprochenen „Demokratisierung der Demokratie“: Diesmal geht es um die Gleichstellung von Menschen mit Migrationshintergrund. Die Ähnlichkeiten zur Emanzipation von Frauen sind nicht zu leugnen, dementsprechend hoffe ich sehr, dass dieser Prozess schneller vorangeht. Die Auswirkungen dürften genauso positiv sein, nicht nur weil Migrant*innen über viele bisher ungenutzte Potentiale verfügen, die durch die Abschaffung von Teilhabehindernissen schnell mobilisiert werden können, sondern auch weil sie „eine besonders starke subjektive Verbindung zu dem politischen Gemeinwesen haben“ (Angela Augustin). Ungezwungene Migrant*innen, weil sie sich bewusst für dieses Land entscheiden, gezwungene, weil sie nicht noch einmal eine „Heimat“ verlieren wollen.

Menschen mit Migrationshintergrund machten Ende 2018 in Deutschland 25,5 Prozent (20,8 Millionen) der Bevölkerung aus, in Kempten (wo allerdings die Definition enger gefasst wurde) 37,4 Prozent (26.447). Wie sieht es mit ihrer Vertretung im neuen Stadtrat aus? Die Zahl der gewählten Stadträtinnen und Stadträte mit Migrationshintergrund hat sich von 1 auf 2 verdoppelt (jetzt 4,4%). Ein mageres Ergebnis. Vor allem, wenn man in Betracht zieht, dass es bei diesen Kommunalwahlen in Bayern insgesamt positiv auffiel, dass in Integrationsbeiräten sozialisierte Kandidat*innen in einer noch nie dagewesenen Zahl auf aussichtsreichen Plätzen aufgestellt und zum Teil auch gewählt worden sind. In Schweinfurt beispielsweise (54.000 Einwohner, ebenfalls 44 Stadträt*innen) haben sowohl die Zweite (CSU) als auch die Dritte Bürgermeisterin (Grüne) einen Migrationshintergrund.

In der Zeitschrift „Punch“ hat Riana Duncan vor drei Jahrzehnten eine viel beachtete Karikatur veröffentlicht: Fünf Männer und eine Frau sitzen am Verhandlungstisch. Der Chef sagt: „Das ist ein hervorragender Vorschlag, Miss Triggs. Vielleicht möchte einer der Herren hier ihn vorbringen.“ Wir sind heute fast alle überzeugt: Frauen können ihre eigenen Interessen am besten selber vertreten. Warum soll es bei Menschen mit Migrationserfahrung anders sein? Warum hinkt Kempten der bundesweiten Entwicklung nach? Die Zahl der aktiven Parteimitglieder mit Migrationshintergrund ist, auch bei uns Grünen, überschaubar. Von Ansätzen bei der SPD abgesehen fehlt das konsequente Nachdenken über die interkulturelle Öffnung der politischen Gruppierungen völlig. In unserer Stadt beherrscht den gesellschaftlichen Diskurs noch immer der Begriff „Integration“, der von einer Zweiteilung von „Wir (‚die Richtigen‘)“ und die „Anderen“ ausgeht und von der Annahme, dass Integrationspolitik vorwiegend die Aufgabe hätte, die Defizite der Zugewanderten aufzufangen und zu korrigieren. 

„Die offizielle politische Anerkennung der Einwanderungsrealität erfolgte für Deutschland erstmalig im Jahr 2001 in der Vorlage des Zuwanderungsgesetzes auf der Basis des Berichts der sogenannten Süssmuth-Kommission“, schreibt Naika Foroutan. Laut Rainer Geißler beinhaltet die zentrale Aussage des Berichts „Deutschland ist faktisch ein Einwanderungsland“ zwei Grundeinsichten: „1. Deutschland braucht Einwanderer aus demografischen und ökonomischen Gründen, braucht sie heute und wird sie auch in absehbarer Zukunft brauchen. 2. Wer Einwanderer braucht, muss diese in die Kerngesellschaft integrieren. Wenn dies nicht geschieht, führt dies zu Problemen und Konflikten.“ Professor Dr. Klaus Sieveking formulierte in seiner Stellungnahme für den Innenausschuss des Bundestages 2008 diesen zweiten Punkt genauer: „Wenn sich Deutschland heute ein Einwanderungsland nennt, muss es auch allen dauerhaft Eingewanderten uneingeschränkt Teilhaberechte in der Einwanderungsgesellschaft gewähren. Andernfalls bliebe das Postulat der Integration der Zugewanderten nur eine Leerformel.“

Dieser Gedanke führt uns zu der im letzten Beitrag gestellten Frage zurück: Wer ist „das Volk“, von dem alle Staatsgewalt im Sinne des Artikels 20 des Grundgesetzes ausgeht? Die Auffassung, dass unsere Demokratie die Herrschaft des „demos“ und nicht des „ethnos“ ist, hat sich in Deutschland seit der Jahrtausendwende schrittweise durchgesetzt. In einer Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 wurde das „ius sanguinis“ durch das „ius soli“ ergänzt. Bereits seit 1992 sichert Artikel 28 des Grundgesetzes Ausländern aus der EU das kommunale Wahlrecht zu. Hiermit wurde das Prinzip einer Abstammungsgemeinschaft ausgehebelt und ein Dreiklassenwahlrecht geschaffen (Staatsangehörige: vollständiges, EU-Bürger: kommunales und europäisches, Drittstaatler: kein Wahlrecht). Vielfach wurde gefordert, dass dieser Artikel den Bedürfnissen einer Einwanderungsgesellschaft entsprechend folgenderweise ergänzt wird (Ergänzungsvorschlag kursiv im aktuell gültigen Text): „Bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden sind auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft, andere Ausländer mit ständigem Wohnsitz im Bundesgebiet nach Maßgabe des Landesrechts, wahlberechtigt und wählbar.“ In 15 von 27 Ländern der EU ist das kommunale Wahlrecht Realität: in Schweden seit 1975, in Dänemark seit 1981, in den Niederlanden seit 1985, in Finnland seit 1991. Nach einem Appell des Europäischen Parlaments und einer 1994 verabschiedeten Richtlinie des Europäischen Rates folgten Estland (1997), Litauen, Slowenien (2002), Luxemburg, die Slowakei (2003), Belgien, Ungarn (2004), Irland und Griechenland (2014) diesem Beispiel. In Spanien und Portugal gibt es noch eine Einschränkung auf die Staatsbürger süd- und mittelamerikanischer Staaten. Ich hoffe sehr, dass nach den Bundestagswahlen 2021 in Deutschland endlich die notwendige Mehrheit für diese längst fällige Grundgesetzänderung entsteht.

„Bei rund elf Millionen Menschen, die Ende 2018 hier lebten, ist der förmliche Ausschluss von der Wahlbeteiligung keineswegs als marginal zu bezeichnen, sondern betrifft eine strake, zwangsläufig schweigende Minderheit“, schreibt Stephan Lessenich. In Kempten geht es hier um mehr als 6.000 Bürger*innen (8,5% der Gesamtbevölkerung). Aber was tun, solange die gesetzlichen Rahmenbedingungen nicht geändert werden? Wir können wieder eine Vorkämpferin der Frauenrechte zu Rate ziehen: Olympe de Gouges forderte 1789 ein exklusiv weibliches Parlament neben dem männlichen. Genau nach diesem Prinzip entstanden in Deutschland seit Mitte der 1980-er Jahre die Ausländerbeiräte, so auch in Kempten, die „für Drittstaatler das einzige Mittel bilden, über Wahlen demokratisch legitimiert Einfluss auf die Politik zu nehmen“ (Bernhard Wilmes, Bundeszentrale für politische Bildung). Anfang der 2000-er Jahre wurde es vielerorts offensichtlich, dass diese Beiräte mit Problemen zu kämpfen haben, die auf viele Gründe zurückzuführen sind: Der Begriff Beirat war schlecht gewählt („Rat“, „Parlament“ oder „Vertretung“ werden seltener verwendet, sind jedoch passender), weil dementsprechend viele eher als Beratungsgremium als eine gewählte Interessenvertretung wahrgenommen und in manchen Kommunen sogar oft zweckentfremdet als Veranstalter multikultureller Events eingesetzt wurden. Man nahm sie dementsprechend zu wenig als politische Gestalter wahr, was sich auch in niedriger Wahlbeteiligung widerspiegelte. Das wiederum begünstigte die Wahl ethnisch homogener Gruppierungen, die gelegentlich mehr Interesse für die Politik ihres Herkunftslandes als für die Kommunalpolitik vor Ort zeigten. Da Eingebürgerte aus den Gremien ausscheiden mussten, ging ihr Fachwissen, ihre Erfahrung und die damit verbundene sprachliche Gewandtheit für die Beiräte verloren. Viele Beiräte wurden in den letzten beiden Jahrzehnten konsequent reformiert. Heute sehen wir, welche Änderungen zum Erfolg führten: Die Gremien wurden zu Integrationsräten erweitert, bei denen Ausländer*innen automatisch, andere Menschen mit Migrationshintergrund auf Antrag wählen und gewählt werden dürfen. Das ermöglichte beispielsweise auch die Einbeziehung von Spätaussiedler*innen. Ein sogenannter Minderheitenschutz wurde eingeführt (Plätze aufgrund von statistischen Daten nach Herkunftsregionen oder -ländern aufgeteilt). Den Räten wurden verstärkt Ressourcen zur Verfügung gestellt (Antragsrecht, Recht auf eigene Öffentlichkeitsarbeit, finanzielle Mittel, hauptamtliches Personal, Vertretungsrecht in einigen Ausschüssen). In Kempten (und in einigen anderen Kommunen) verwandelte man den Ausländerbeirat nach dem Muster anderer Beiräte in ein vom Stadtrat benanntes Gremium, dessen Mitglieder in drei Sitzungen im Jahr mit Informationen überschüttet werden, jedoch nicht einmal ein eigenes Logo entwickeln, keine eigene Homepage nutzen oder in den sozialen Medien aktiv sein dürfen. Menschen, die in ihrem alltäglichen Leben genauso zu unserer Stadtgesellschaft gehören wie jeder andere, das Recht abzusprechen, ihre Vertreter*innen selber zu wählen, ist in meinen Augen nicht nur ein Skandal, sondern in einer Stadt, die auf die Teilhabe ihrer Bürger*innen Wert legt, auch töricht und kontraproduktiv. Gut funktionierende Integrationsräte garantieren den Dialog innerhalb der migrantischen Gesellschaft, sie sind das beste Lernfeld für politische Partizipation, sie bauen Brücken und Netzwerke in der ganzen Stadtgesellschaft, sie fungieren als kritische Beobachter und als Experten Richtung Politik und Verwaltung.

Ich bin überzeugt: Die Erweiterung der politischen Teihabechancen auf alle, die in unserer Stadt leben, würde wie eine „Frischzellenkur für die Demokratie“ (Hans Vorländer) wirken. Die positiven Impulse durch die interkulturelle Öffnung von Politik, Medien und Wissenschaft in Bund und Ländern sind bereits sichtbar. Wir leben längst in einer postmigrantischen Gesellschaft. Einerseits deshalb, weil für viele Millionen Menschen in Deutschland die Migration und die klassische Integration der Vergangenheit angehört, abgeschlossen ist, sie ist ein Teil ihrer Identität geworden unter etlichen anderen, die oft wesentlicher sind. Es geht nicht mehr um Integration, sondern um interkulturelles Zusammenleben, nicht mehr um den Abbau von Defiziten, sondern um Bereicherung durch Vielfalt. Andererseits deshalb, weil in einem Einwanderungsland, in dem jeder vierte einen Migrationshintergrund hat und das sich seine Zukunft ohne weitere Zuwanderung schwer vorstellen kann, der Umgang mit dem Thema zu den zentralen Themen der Politik und des gesellschaftlichen Zusammenlebens gehört und nicht mehr als Randthema auf die Seite geschoben werden kann.

Es gibt in diesem Zusammenhang viele weitere Themen. 2017 durfte ich in dem Beirat des von Staatsministerin Aydan Özuğuz initiierten Projekts „Vote D – Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund an der Bundestagswahl 2017“ mitwirken. Es ging um die Frage, wieso die Wahlbeteiligung bei den Wahlberechtigten mit Migrationsgeschichte niedriger ist als bei den Durchschnittsbürger*innen. In fünf Städten/Landkreisen hat man Methoden entwickelt, um die Beteiligung zu erhöhen, und im Anschluss wurden diese evaluiert. Ich gehe davon aus, dass dieses Problem auch bei der Kommunalwahl 2020 in Kempten vorhanden war und dass es auch hier Handlungsoptionen gäbe.

Als Schluss bietet sich ein Zitat von Jagoda Marinic aus dem Jahr 2017 an: „Es ist Zeit, mit den Einwanderern über Demokratie zu reden, über Pressefreiheit, über den Wert einer vitalen Zivilgesellschaft. Es ist Zeit, dass deutsche Politiker mit Deutschlands Einwanderern und deren Nachfahren über Bürgerrechte reden, dass sie sich hinstellen und sagen: Du bist gemeint. Dann werden auch Eingewanderte sagen können: Mein Politiker. Meine Politikerin. Meine Werte. Mein Land.“
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