T:K Programmheft

03.07.2022
Meinung zum T:K-Programmheft

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, liebe Kolleg*innen und Teilnehmer*innen der letzten Sitzung des Kulturausschusses,


leider war es mir in der letzten Sitzung des Ausschusses nicht möglich, auf die kritischen Anmerkungen des Kollegen Kibler zu reagieren, weil mir im Moment das kritisierte Programmheft nicht zur Verfügung stand. Deswegen möchte ich zu seinen Kritikpunkten auf diesem Wege schriftlich Stellung nehmen:


Die Kritik des Kollegen Kibler in Bezug auf die beiden Fotos im Programmheft finde ich berechtigt, wenn auch nicht präzise genug. Problematisch in meinen Augen ist nicht die Interpretation der Bilder. Kunstwerke lösen bei den Betrachtern, je nach ihrer Persönlichkeit, momentaner Verfassung, persönlicher Betroffenheit unterschiedliche Emotionen aus. Beim Thema Missbrauch ist das ganz besonders zutreffend.


Allerdings ist Deutschland auf dem Gebiet der Kinderrechte ein Entwicklungsland. Hierzulande wird darüber, wie man die im November 1989 von der UN verabschiedete Kinderrechtskonvention im Grundgesetz gut sichtbar verankert, noch immer debattiert. In Artikel 12 der Kinderrechtskonvention steht: „Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.“ Ich frage mich, ob es in unserem Fall im Sinne des Artikels 12 altersgemäß ist, die Entscheidung über die Veröffentlichung der beiden Bilder dem abgebildeten Kind zu überlassen. Ich frage mich aber auch, ob die Eltern das Recht haben, diese Entscheidung zu übernehmen. Bilder dominieren unsere Welt, sie werden zwar schnell vergessen, aber genauso schnell können sie wieder auftauchen. Wird das abgebildete Kind im Jugend- oder Erwachsenenalter für diese Veröffentlichung seinen Eltern dankbar sein?


In der Schriftenreihe des Deutschen Kinderhilfswerks erschien 2018 die Studie von Nadia Kutscher und Ramona Bouillon mit dem Titel „Kinder. Bilder. Rechte. Persönlichkeitsrechte von Kindern im Kontext der digitalen Mediennutzung in der Familie“, deren Inhalte auch im 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung aufgenommen wurden. In dem Kapitel „Privatheit und Schutz von Fotos aus Sicht der Kinder“ (S. 53ff) haben die Forscherinnen Kindern unter anderem ein Foto gezeigt, auf dem drei Kinder mit nacktem Oberkörper zu sehen sind. Die meisten der befragten Kinder fanden das Bild „komisch“, „unangenehm“, „blöd“ und „peinlich“. Mehrere äußerten die Befürchtung, dass sie, wenn sie selber auf dem Bild zu sehen wären, von anderen ausgelacht werden könnten. Aber alle Kinder, auch die, die mit dem Bild einen spaßigen Schwimmbadbesuch verbanden, waren sich einig, dass sie selbst nie auf einem Foto ohne vollständige Bekleidung öffentlich dargestellt werden wollen. Wenn im Rahmen der Studie Fotos positive Lebenssituationen darstellten (gewonnenes Fußballspiel, Tanzaufführung, schicke Klamotten usw.), waren die Kinder für eine Veröffentlichung. Einige wünschten bei allen veröffentlichten Bildern eine Anonymisierung.


Bei den im Programmheft veröffentlichten Bildern ist der Kontext viel heikler. Hat man zum Schutz des betroffenen Kindes deren Wirkung auf andere Kinder geprüft? Es würde mich nicht wundern, wenn in dem Fall die Ergebnisse ähnlich oder noch eindeutiger als in der obigen Studie ausfallen würden. Ich kann mir weder als Vater noch als Großvater vorstellen, die Zustimmung zur Veröffentlichung ähnlicher Bilder mit den eigenen Kindern oder Enkeln überhaupt in Erwägung zu ziehen. Es ist durchaus interessant, dass auf dem Bild auf Seite 5 die Eltern anonymisiert werden, der auf Seite 23 abgebildete Vater lässt aber Rückschlüsse auf die Identität des Kindes zu. Nur das Gesicht der Mutter wird nirgendwo gezeigt – sie konnte ihre Interessen vermutlich erfolgreich durchsetzen.


Summa summarum: Auf dem Gebiet der Kinderrechte haben wir auch in Kempten Nachholbedarf - mit den Worten von Antoine de Saint-Exupéry formuliert: „Kinder müssen mit Erwachsenen viel Geduld haben.“


Anders sieht es mit dem kritisierten Text von Jedediah Purdy aus. Seine Inhalte sind weder neu noch radikal linksökologisch, seine Meinung ist weder China-freundlich noch antidemokratisch. Der Text ist stellenweise etwas bröckelig, was wahrscheinlich auf die fragmentierte Veröffentlichung aus einem Interview zurückzuführen ist. Der letzte Absatz ist ein klares Bekenntnis für eine demokratische Lösungsfindung. Dass der Staat in der multiplen Krise der jetzigen Zeit in der Wirtschaft wieder eine gestalterische Funktion übernehmen sollte, ist spätestens seit den vielgefeierten Auftritten der Star-Ökonomin Mariana Mazzucato am Weltwirtschaftsforum in Davos (keine Versammlung von Linksökologen!) und ihren vielbeachteten Publikationen nichts Neues. „Nur der Staat verfügt über die Möglichkeiten, für einen Wandel im benötigten Ausmaß zu sorgen“, schreibt sie (Mariana Mazzucato: Mission. Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft, Frankfurt/New York 2021, S. 250). Sie betont auch, wie wichtig hierbei gesellschaftliche Teilhabe ist: Nur eine mit der Wirtschaft und der Politik zusammenarbeitende aktive Zivilgesellschaft könne dafür sorgen, dass die Wertschöpfung aus staatlichen Investitionen der Allgemeinheit zugutekommt. Der Staat habe nicht die Aufgabe, kaputte Systeme zu reparieren, sondern gewinnbringend in die Zukunft zu investieren. „Verschwende niemals eine gute Krise“, zitiert sie eine populäre politische Maxime (Mariana Mazzucato: Der Kapitalismus nach der Pandemie. Wie eine richtige Erholung aussehen sollte, in: Shalini Randeria (Hg.): Kapitalismus im 21. Jahrhundert, Wien 2022, S. 141). Mazzucatos Sprache ist klarer, ihre Argumentation seriöser formuliert, aber die Intention beider Autor*innen ist das Gleiche: Versucht die Welt anders zu denken. Dystopien alleine werden die Welt nicht besser machen, wir brauchen Vordenker*innen, die Lösungen aufzeigen.


Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

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