K6Corona

Nachdenken über Corona

In der Schul- oder Berufslaufbahn haben viele von uns derartige Erfahrungen gemacht: Ein geschätzter Klassenkamerad oder eine Kollegin verhielt sich in einer schwierigen Situation anders, als wir es von ihm/ihr erwartet hätten. Wir wollten ihn/sie bei Gelegenheit darauf ansprechen. Andere waren jedoch schneller und handelten rücksichtslos. Sie überschütteten den Klassenkameraden oder die Kollegin mit Verachtung, Häme, Hass: sie fingen an, ihn/sie systematisch zu mobben. Wie verhält man sich in einer solchen durchaus brenzligen Situation richtig? Soll man auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners an seiner Kritik festhalten, ohne darauf zu schauen, mit wem man so in ein gemeinsames Lager gerät? Oder ist es besser, sich mit dem Opfer zu solidarisieren, es zu unterstützen und dabei die Kritik zunächst mal hinten anzustellen?

In den letzten Monaten erleben viele von uns tagtäglich ähnliche Situationen. Grundsätzlich schätzen wir unser demokratisches System, seine Institutionen und seine Würdenträger*innen und vertrauen ihnen. Trotzdem gefällt uns einiges an der aktuellen Corona-Politik nicht: Wir wünschen uns mehr Transparenz und demokratische Beteiligung im Entscheidungsprozess. Wir hätten gerne, auch vor Ort, zuverlässige und umfangreichere Informationen über die aktuelle Situation. Von unseren Politiker*innen erwarten wir, dass sie Perspektive und Zuversicht ausstrahlen und weniger, dass sie Angst schüren und sich von sich überzeugt für die nächste Wahl in Stellung bringen. Warum treffen die Maßnahmen am meisten die Kulturschaffenden? Wieso wird ein Teilbereich der Kultur (Religion) präferiert, obwohl diese Art der Bevorzugung selbst der Papst ablehnt? Werden bei den staatlichen Hilfen eher Unternehmer*innen bevorzugt und Arme vernachlässigt? Wir wollen diese Fragen stellen, sehen aber ein, dass außergewöhnliche Situationen außergewöhnliches Handeln verlangen und dass dieses ohne Fehler nicht möglich ist. Wir wissen, dass wir nach der Krise „viel verzeihen“, aber bei Gelegenheit auch vieles offen ansprechen müssen.

Andere, die unsere Wertschätzung nicht teilen, waren aber schneller und handeln rücksichtslos. Sogenannte „Querdenker“, Rechtsradikale, Verschwörungstheoretiker*innen u.v.m. wetteifern, wer teilweise durchaus berechtigte Fragestellungen radikaler und medienwirksamer formulieren kann, um möglichst viele mobilisieren zu können. Dabei werden höchst obskure Geschichten und massenweise falsche Informationen in die Welt gesetzt. Die AfD versucht auf den Zug aufzusteigen, wird aber von anderen überrollt. Links oder Rechts spielt innerhalb dieser neuen Sammelbewegung kaum noch eine Rolle. Man gaukelt vor, demokratische Rechte schützen und nur die unfähigen Akteure loswerden zu wollen, aber in Wirklichkeit wird das politische System der repräsentativen Demokratie massiv und immer mehr unverhohlen in Frage gestellt. Es wird behauptet, den gesellschaftlichen Diskurs anstoßen zu wollen, aber die Bereitschaft für einen substanziellen Dialog fehlt. Ich habe mehrmals solche Gespräche initiiert und feststellen müssen, mein Gegenüber will nur seine Glaubenssätze herunterleiern und erwartet von mir eine möglichst uneingeschränkte Zustimmung. Die Ohren für Gegenargumente bleiben verschlossen. Ich werde als minderbemittelt dargestellt, wenn ich vermeintlich klare Zusammenhänge nicht verstehen will. Die gleichen Storys werden wiederholt, als ob sie durch mehrmaliges Erzählen überzeugender wären. Die Parallelen zu Gesprächen mit Rechtspopulisten sind unüberhörbar. 
In Krisenzeiten hatten falsche Propheten immer Konjunktur, auch jetzt verkaufen sich manche führenden „Querdenker“ als Hohepriester ihrer Ideologie. Wie diese Muster funktionieren, wissen wir aus der Geschichte des „kurzen 20. Jahrhunderts“. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn die gleichen Akteure die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes mit dem Ermächtigungsgesetz und sich selber mit Sophie Scholl vergleichen. Das ist nicht nur ein Sakrileg, sondern die Gleichsetzung der Bundesrepublik mit einem faschistischen Staat, der Andersdenkende auf das Schafott bringe. Die Lebensgefahr durch den Staat für diese „Widerstandskämpferin“ ist in Wirklichkeit gleich null, aber das demonstrative Ignorieren der Corona-Regeln bei den Kundgebungen ihrer Bewegung bringt andere Menschen tatsächlich in Gefahr.

Nicht wenige Mitmenschen haben sich in der Situation dafür entschieden, ihre Kritik offen zu formulieren und halten die Demonstration für einen geeigneten Ort, um diese kundzutun. Sie nehmen dafür das gemeinsame Auftreten mit den oben beschriebenen politischen Kräften in Kauf. Sie machen wahrscheinlich sogar die Mehrheit der Teilnehmer*innen der Protestveranstaltungen aus. Bei manchen ist der Leidensdruck durch die Einschränkungen zu groß, bei anderen gehörte der Protest schon immer zur Lebensform, bei manchen spielt die soziale Umgebung eine Rolle, andere gehen aus Neugier hin, einige fühlen sich in ihren eigenen esoterischen Einstellungen gestärkt, viele unterschätzen die manipulative Kraft der Sammelbewegung. Was jedoch allgemein gilt: Andere, seriöse Plattformen, um die Probleme anzusprechen, findet man momentan nicht leicht. Für mich gilt jedoch: Mit den Feinden der Demokratie gemeinsam in die gleiche Tröte zu blasen kommt nicht in Frage! Dadurch fördert man nicht nur die Verbreitung des Corona-Virus, sondern auch nicht minder gefährlicher und tödlicher ideologischer Seuchen.

Gibt es in dieser verzwickten Situation eine Alternative, die solide Kritik ermöglicht, ohne in trübe Gewässer zu geraten? Ja, diese gibt es! Wir sollten in den altbewährten Institutionen unserer Demokratie Rückhalt suchen und diese müssen sich wieder auf ihre ureigensten Aufgaben besinnen. Die Stockstarre durch die Unberechenbarkeit des Virus ist vorbei. Die Debatten im Landtag aus jüngster Zeit zeigen, dass die politischen Parteien wieder da sind. Das demokratische Lager bezweifelt nicht die Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen, sondern sie hinterfragt diese kritisch, um die Entscheidungen zu optimieren. Ich wünsche mir, dass diese Entwicklung auch vor Ort Fahrt aufnimmt. In den bayerischen Kommunen hat die Institution des Oberbürgermeisters als Vorsitzender des Stadtrates und gleichzeitig Verwaltungschef eine herausragende Bedeutung. Beide Institutionen haben eine solide Arbeit für, aber auch mit den Bürger*innen zu leisten. Bei diesem Dialog und einer differenzierten Informationsvermittlung ist, glaube ich, noch viel Raum nach oben vorhanden. Bei den Finanzen, die in die digitale Ausstattung der Verwaltung fließen, dürften moderne, kreative Diskursformate problemlos möglich sein. Auch die Tagespresse hat die Möglichkeit, jenseits der Zahlen, der Berichte und Leserbriefe in Form von Streitgesprächen, Gastkommentaren u.v.m. den Diskurs zu fördern. Ich vermisse (noch?) auch die Stimme der Wohlfahrtsverbände, die sich für die einsetzen, die durch die Auswirkungen der Pandemie noch mehr ins Abseits geraten…

„Wir Menschen sind ausgesprochen soziale Wesen. Wir können nicht allein leben, ohne Schaden zu nehmen“, sagte der vor kurzem verstorbene Schweizer Kinderarzt und Bestsellerautor Remo Largo. Damit der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht noch mehr Schaden nimmt, müssen wir auch in Corona-Zeiten konsequent das Gespräch mit unseren Mitmenschen suchen. Und das im Rahmen vorhandener Strukturen, nach den Spielregeln der Institutionen einer wehrhaften Demokratie.
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